Eine Rauchwolke steigt über der öden Landschaft auf. Ob ein oder mehrere Häuser explodiert sind, lässt sich auf der unscharfen Kameraaufnahme aus dieser Entfernung nicht erkennen — nur die Farbe der Rauchwolke: Blau. Im Hintergrund hört man einige Männer lachen und jubeln. Einer von ihnen spricht die Worte aus, über die sie sich freuen: „Es ist ein Junge“. (1)
Bei den Männern handelt es sich offenbar um Angehörige des israelischen Militärs und bei dem Angriffsziel um ein Gebäude im Gazastreifen. Unter dem Video, das Anfang Mai durch den arabischen Sender Al Jazeera publiziert wurde, ist zu lesen:
„Israelische Soldaten haben sich dabei gefilmt, wie sie ein Gebäude in Gaza in die Luft sprengen, während sie über den blauen Rauch lachen, der an ein Gender-Reveal erinnert.“
Gender-Reveals sind eine Erfindung der Social-Media-Welt. Dabei lassen sich Paare— insbesondere Influencer-Paare — das Geschlecht ihres Kindes nicht direkt vom untersuchenden Gynäkologen mitteilen, sondern bitten ihn, es beispielsweise auf ein Stück Papier zu schreiben, welches das Paar dann einer vertrauten Person übergibt. Diese Person wiederum organisiert dann eine farblich eindeutige Überraschung, die die werdenden Eltern gemeinsam erleben und meist auch posten können.
Dabei kann man im Netz durchaus einen Wettkampf darum beobachten, wer sich die originellste Variante einfallen lässt. Rosa oder blau eingefärbte Torten werden angeschnitten, kleine Rauchkanonen versprühen ihren Inhalt, oder die Eltern lassen einen großen Luftballon mit Konfetti darin zerplatzen. Normalerweise kommt dabei niemand zu Schaden. Normalerweise explodieren dabei aber auch keine Häuser.
Ob die Soldaten die Bombe tatsächlich mit blauem Rauch ausgestattet haben, um den werdenden Vater mit dem Geschlecht seines Kindes zu überraschen oder ob sie lediglich lachen, weil die Farbe sie an eine solche Verkündung erinnert, kann anhand des Videos nicht sicher festgestellt werden.
So oder so sind das Lachen und die offensichtliche Freude, mit der sie auf die Zerstörung ihres Ziels reagieren, erschreckend.. Es ist, als hätte eine humoristische Gleichgültigkeit — wie sie typisch ist für die sozialen Medien und versucht, aus allem ein Meme zu machen — die Realität des Krieges erreicht.
Al Jazeera ist kein unparteiischer Sender, sondern klar pro-arabisch positioniert. Deshalb dürfen dortige Publikationen — genauso wie die von israelischen Medien — mit Vorsicht genossen werden, insbesondere wenn sie stark emotionalisierend wirken.
Mittlerweile griffen allerdings auch internationale Medien das Video auf, wie etwa die Times of India. Im Westen hingegen fand es — mit Ausnahme eines Artikels in der Schweizer Boulevardzeitung Blick — keine Beachtung (2)(3).
Arabische Genugtuung
Sechs Wochen später und mehrere hundert Kilometer entfernt steht ein Saxophonist auf einem Dach im Libanon und spielt leidenschaftlich sein Instrument, während helle Lichtpunkte am Horizont vorbeiziehen. Um ihn herum stehen schick gekleidete Menschen, die offenbar eine Rooftop-Party feiern und ihre Smartphones gen Himmel richten, um das Spektakel einzufangen.
Die Stimmung scheint ausgelassen und neugierig. Keine Spur von Angst oder Verzweiflung ist dem Video zu entnehmen, das zeigen soll, wie die Feiernden auf die Raketen reagieren, die der Iran in dieser Nacht in Richtung Israel schickte (4).
Solche Videos kursierten ab Mitte Juni zuhauf im Netz. Sehr wahrscheinlich bilden sie nicht die tatsächliche emotionale Realität vieler Menschen ab — insbesondere nicht die derjenigen, die sich im Einschlagsgebiet der Bomben auf beiden Seiten befanden. Dennoch ist auffällig, wie häufig eine solche surreale Gleichgültigkeit — oder im extremen Fall Begeisterung — für das Kriegsgeschehen online zur Schau gestellt wird.
So gibt es weitere Videos aus dem Libanon, in denen Menschen dem Raketensturm des Iran zujubeln, etwa zu „Gimme! Gimme! Gimme (A Man After Midnight)“ von Abba (5) oder „Wonderful Life“ (6) von Black. Dazu kommen Aufnahmen aus dem Jemen, wo die Angriffe offenbar teils per Public Viewing verfolgt werden (7).
Auf der arabischen Seite ist diese mediale Realität vor allem gekennzeichnet von einer gewissen euphorischen Genugtuung, dass Israel nun endlich einmal etwas „auf den Deckel“ bekommt. Vertretern der israelischen Perspektive dürfte das wie erscheinen der ultimative Beweis der Unmoral ihrer Gegner erscheinen, während diese erwidern würden, dass jemand, der nicht unter der kolonialen Außenpolitik Israels gelitten hat, auch nicht über diese Reaktionen urteilen soll.
Allein die Tatsache, dass diese Argumente aufeinanderprallen, zeigt, wie weit die Spirale aus Gewalt und Rachegelüsten bereits eskaliert ist.
Wer dem Prinzip der Rache in diesem Konflikt auch nur den kleinsten Raum einräumt, hat schon aufgegeben, ihn je zu beenden, denn im Nahen Osten wird es immer jemanden zu rächen geben.
Abgesehen davon, dass das freudige Feiern der Raketen schon, deshalb nicht angemessen ist, weil sie in erster Linie Unschuldige treffen, ist es auch irrational. Wer im Libanon lebt, dem dürfte die Angst vor einem Flächenbrand drängend im Nacken sitzen; vielleicht sogar so sehr, dass ihm nur ekstatische Verdrängung als letzte Bewältigungsstrategie bleibt.
Die im Internet dargestellte Gleichgültigkeit muss jedoch keinesfalls bedeuten, dass die Menschen, die in den Videos gezeigt werden, tatsächlich glücklich über den Krieg sind oder ihm gefühllos gegenüberstehen. In der Psychologie gibt es das Phänomen der Parathymie. Der Begriff bezeichnet eine Störung der Affektivität, bei der Menschen Gefühle äußern, die völlig konträr zu der Situation erscheinen, in der sie sich befinden. Ein Beispiel dafür ist, wenn jemand auf der Beerdigung eines geliebten Menschen plötzlich anfängt zu lachen oder dauerhaft grinsen muss, obwohl er oder sie mit etwas Unangenehmen konfrontiert ist. Dahinter steht oft, dass die Gefühle, die der Situation eigentlich angemessen wären, zu überwältigend oder bedrohlich sind um sie direkt zuzulassen.
Israelische Verherrlichung
Dieses merkwürdige Verhalten bleibt jedoch nicht auf die arabische Welt begrenzt. Neben dem erwähnten Gender-Reveal-Video, das sich noch auf die Kriegsführung im Gazastreifen bezieht, zeigen auch Aufnahmen aus Israel nach der Eskalation mit dem Iran eine skurril anmutende Leichtigkeit im Umgang mit militärischer Gewalt. So kursiert etwa ein Video, das ein musikalisches Trio zeigt, wie es Cello und Gitarre spielend singt:
„We bombed Iran, we bombed Teheran, we blocked their plan, cause if youre messin with the Jews you
re always gonna lose, it’s gods plan, god rules the land, bomb, bomb, bomb, bomb, bomb Iran“ (8)
Musikalische Vorlage für diese Performance ist das Lied „Bomb Iran“ von Vince Vance & The Valiants aus dem Jahr 1980. Hieraus wurden die Melodie und der Refrain entnommen, der restliche Text und auch die inhaltliche Grundrichtung jedoch verändert. Bei dem Original von „Bomb Iran“ handelte es sich nämlich um eine Parodie, die den amerikanischen Interventionismus karikiert. Und auch wenn die Musizierenden wirken, als würden sie, was sie tun, durchaus ernst nehmen, kann man natürlich nicht ausschließen, dass es sich auch hierbei um Satire handelt.
Wie schwer es ist, Spaß und Ernst auseinanderzuhalten, verdeutlicht — wie so oft — Donald Trump. Nach dem Angriff der USA auf den Iran teilte er auf dem Kurznachrichtendienst Thruth Social eben jenes satirische Original. Ob er es sich im Vorfeld nicht ordentlich angehört und den Sinn des Stücks nicht verstanden hat oder eine besonders erhabene Form der doppelten Selbstironie an den Tag legt, kann nicht mit Sicherheit bestimmt werden.
Was aber bleibt ist der Eindruck, das Ganze sei ein Spiel, bei dem man Songs für oder gegen die eine oder die andere Seite postet, in dem man lustige Videoideen umsetzt — selbst in Situationen, die selten so existenziell gewesen sind.
Eine in Teilen gelöste Stimmung ist wenige Stunden nach den ersten Angriffen offenbar auch in Tel Aviv zu beobachten. Ein Influencer, der seine Reisen auf Instagram dokumentiert, fährt auf einem Skateboard den in einen Sonnenuntergang gehüllten Strand entlang und schildert strahlend:
„Das ist der Grund, warum Tel Aviv in Israel mein liebster Ort auf der ganzen Welt ist: Schaut nur, letzte Nacht hat der Iran ballistische Raketen auf Zivilisten hier abgefeuert und heute sind wir am Strand und spielen Volleyball, genießen das Leben. Das ist so schön zu sehen. Ich habe keine Angst, wenn ich jetzt hier in Israel bin.“ (9)
Dass das die Realität mit Sicherheit nicht ansatzweise vollständig wiedergibt, ist logisch. Spätestens in den Momenten, in denen die Raketen tatsächlich einschlagen, Menschen in Bunker flüchten oder die Leichen ihrer Familienmitglieder bergen, dürfte diese Leichtigkeit dahin sein.
Galgenhumor und Verdrängung
Jedem einzelnen dieser Videos ist in Zeiten von KI eine Grundskepsis entgegenzubringen. In der Masse jedoch, in der sie aktuell die sozialen Medien fluten, zeigen sie einen Trend der Enthemmung, was kriegerische Auseinandersetzungen angeht. Diese werden nicht mehr behandelt als das, was sie sind: brutale, traumatisierende Ereignisse, denen unzählige Menschen zum Opfer fallen und die um jeden Preis verhindert werden sollten.
Ein weiteres virales Video zeigt ein Feuerinferno, dessen Flammen in der Form eines Atompilzes meterhoch in die Nacht schlagen (10). Menschen, die angesichts der Feuerfontäne winzig erscheinen, rennen um ihr Leben in die entgegengesetzte Richtung. Über der Szenerie prangt der Schriftzug:
„My First World War, Kinda Nervous“.
Und als wäre das nicht genug ist das Video musikalisch unterlegt mit dem fröhlichen Intro der Disney-Serie „Jessie“. In den 2010er Jahren lief diese in Deutschland auf Super RTL und dreht sich um eine junge Frau, die beginnt, die vier verzogenen Kinder einer New Yorker Familie zu babysitten und damit heillos überfordert ist. Die Worte des Introsongs passen auf skurril sarkastische Weise auch zu der gezeigten Kriegssituation:
„My whole world is changin', turnin' around
They got me goin' crazy, yeah, they're shakin' the ground“
Auf den ersten Blick wirken solche Videos wie purer Zynismus — und vielleicht sind sie das auch: schlicht ein Symptom von Gesellschaften, die sich so sehr im medialen Raum bewegen, dass ihnen irgendwann abhandenkommt, dass die echte Realität — im Gegensatz zu der in sozialen Medien — tatsächlich kein Spiel ist. Es könnte aber auch ein Zeichen dafür sein, dass die Situation so ernst und besonders im Gazastreifen derartig brutal ist, dass der Bevölkerung überall auf der Welt kaum mehr adäquate Strategien zur Verarbeitung zur Verfügung stehen und ebenso keine Narrative, mit denen man das, was passiert, logisch erklären kann.
Die meisten heute lebenden Menschen kennen den Terminus „Weltkrieg“ nur noch aus Geschichtsbüchern. Das bedeutet, dass sie ihn einerseits abstrakt in seiner Bedrohlichkeit aufgesogen haben — und ihn doch nicht wirklich greifen können. In der aktuellen weltpolitischen Situation liegt etwas Existenzielles in der Luft — für jeden spürbar. Und doch ist nicht jeder in der Lage angemessen darauf zu reagieren.
So verständliche diese parathyme Reaktion sein mag, trägt sie doch nicht dazu bei, der Lösung des Konflikts auch nur einen Schritt näher zu kommen. Wer die Brutalität und Ernsthaftigkeit von Krieg und Gewalt verdrängt, um ihn ertragen zu können, erreicht vielleicht kurzfristig Erleichterung, langfristig aber wird er immer Extremeres bereit sein, hinzunehmen.
In der Anerkennung der Realität liegt Schmerz, aber auch die Möglichkeit sie zu verändern.

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Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.youtube.com/sorts/YoP-LsdAbbI
(2) https://timesofindia.indiatimes.com/world/middle-east/watch-israeli-soldiers-viral-gender-reveal-video-shouts-its-a-boy-as-blue-smoke-erupts/articleshow/120915801.cms
(3) https://www.blick.ch/ausland/im-gaza-streifen-israelische-soldaten-sprengen-haus-fuer-gender-reveal-party-id20841508.html
(4) https://www.tiktok.com/@dailymail/video/7516128627415649578
(5) https://www.instagram.com/p/DK8gyL9SA6Q/
(6) https://www.instagram.com/p/DK6YF4OsvmI/
(7) https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=yemen+public+viewing+missiles#fpstate=ive&vld=cid:1dbfbfb5,vid:ndUOSuZtANU,st:0
(8) https://www.instagram.com/p/DLA1RJtuG2p/
(9) https://www.instagram.com/p/DK-YCZbOUf7/
(10) https://www.instagram.com/p/DK86gkPu1d8/