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Das Corona-Tagebuch

Das Corona-Tagebuch

Rubikons Mutmach-Redaktion lädt die Leser zum kollektiven Schreiben ein. Teil 1.

Wir können uns hier auf dem Rubikon zusätzliche Informationen holen, welche die übermäßig große neue Gefahr dieses Virus in Zweifel stellen, doch das bringt gleich wieder neue Ängste auf. Überrollen uns die Mechanismen der Macht nun so vollständig, dass uns die letzten Entscheidungsräume genommen werden? Werden wir sie jemals wieder vollständig zurückgewinnen?

Eine Möglichkeit mit beängstigenden Situationen umzugehen, ist, davon zu erzählen, sie mit anderen zu teilen, indem man sie aufschreibt. Ganz nach dem Motto der Schriftsteller:

Wer schreibt, kann kein Opfer sein.

Wer schreibt, stellt sich neben sich, betrachtet sich selbst und die eigenen Gefühle, nimmt sie wahr, anstatt sie zu verdrängen, fasst sie in Worte und hat sie damit, zumindest für den Moment gebannt. Die Angst zu gestalten anstatt sie zu erleiden — schon das ist ein heilsamer Prozess.

Und während wir überall hören müssen, Abstand sei das Gebot der Stunde, wächst doch gerade der Wunsch, sich mitzuteilen, die Isolation aufzuheben, wo immer es geht.

Und was wissen wir jetzt überhaupt noch voneinander? Für uns alle ist diese Situation etwas völlig Neues. Wie geht es den Infizierten, den Erkrankten, aber auch: Welche gesundheitlichen Risiken bringen die Einschränkungen mit sich und natürlich welche wirtschaftlichen Ängste?

Was passiert mit uns, wenn sich fast an jedem Tag die Gesetzeslage auf gravierende Weise ändert? Könnte es jetzt nicht etwas sehr Beruhigendes und Heilsames sein, unsere Ängste und Gedanken miteinander zu teilen, uns also schreibend mitzuteilen? Das immerhin lassen die Isolationsvorgaben ja zu.

Und so können wir auch dafür sorgen, dass diese Ausnahmesituation bereits in „Echtzeit“ dokumentiert wird und damit verhindern, dass das, was wir jetzt erleben, nicht wieder allzu schnell in Vergessenheit gerät. Wer schreibt, der bleibt, heißt es so schön.

Vier Rubikon-AutorInnen machen den Anfang, stellen in den ersten Teilen dieser Serie ihre eigenen Tagebuch-Texte vor und laden Rubikon-Leser zum Mitmachen ein. Probieren Sie die heilsame Wirkung des Schreibens aus, wenn Sie das nicht ohnehin schon tun, und schicken Sie uns Ihre Texte per E-Mail mit dem Betreff „Corona-Tagebuch“ an mut@rubikon.news.

Corona-Tagebuch

von Katrin McClean

24. März 2020

Seit zwei Tagen ist eine Kontaktsperre über uns verhängt. Wenn sich mehr als zwei Menschen treffen, so steht das unter Strafe. Was genau ihnen dann blüht, ist unklar. Mal heißt es hohe Geldstrafen, mal zwei Jahre Haft. Man reibt sich die Augen und denkt: Das kann man doch nicht einfach so bestimmen. So einfach war es auch nicht, aber es war eine atemberaubende Entwicklung bis hierher. Ich will dieses Chaos ordnen und rekapitulieren, wie unser Leben in den letzten zwei Wochen Schritt um Schritt eingeschränkt wurde.

10. März 2020

Es wird bekannt gegeben, dass aufgrund einer Grippewelle, die von China nach Italien übergesprungen sei, und nun droht sich in ganz Europa auszubreiten, mehrere Großveranstaltungen abgesagt werden. Darunter die Automesse und die Leipziger Buchmesse. Gerade die Absage der Buchmesse macht mich sprachlos. Wegen einer Grippe? Von einer öffentlichen Debatte über diese Maßnahmen habe ich nichts mitbekommen. Ich habe das Gefühl, gerade den Gipfel staatlicher Eigenmächtigkeit zu erleben, niemals käme ich auf die Idee, dass das erst der Anfang ist.

Am 12. März 2020 erreicht mich eine Nachricht der Volkshochschule: Sollte ich in letzter Zeit in Italien oder Frankreich gewesen sein, könne ich meinen geplanten Kurs nicht halten. Zum Glück machen wir Ski-Urlaub im Erzgebirge.

Am Abend gehen wir wie jeden Donnerstag zum Tango-Tanzen. Die Inhaberin Christiane hat überall Desinfektionsmittel verteilt. Sie hat auf Facebook bekannt gegeben, dass Kurs und Milonga trotz verschiedener vage kursierender Warnungen stattfinden.

Der Tanzlehrer Daniel erzählt, dass das Studio daraufhin brachiale Drohungen erhalten hat. Wir werden gebeten, nur mit dem eigenen Partner zu tanzen. Ein Tänzer, der gerade erst aus Italien kommt, muss wieder gehen, begleitet von tausend Entschuldigungen. Je mehr Gäste im Laufe des Abends erscheinen, umso mehr löst sich das Verbot des Partnertausches in Wohlgefallen auf, jeder wiegt jede in den Armen, schon heute, ganze 12 Tage später, ein geradezu undenkbares Bild.

Am Samstag, dem 14. März wird alles geschlossen, was sich Kultur nennt. Theater, Konzerthalle, auch der kleinste Tango-Schuppen. Die Medien verkünden die baldige Ausbreitung der schlimmsten Grippewelle aller Zeiten, genannt Corona. Noch nie habe es eine so hohe Ausbreitungsgeschwindigkeit gegeben, noch nie so viele Todesfälle. Deutschland macht seine Grenzen dicht.

Tagesschau.de veröffentlicht eine weltweite Ausbreitungsstatistik. Ich vergleiche die Zahlen mit den Statistiken der letzten Jahre. Sie sind leicht zugänglich. Weder die Anstiegskurve der Ausbreitung, noch die Zahl der Todesfälle von Corona übersteigen bisher Dagewesenes. Im Gegenteil noch liegen Werte und Ausbreitungsgeschwindigkeit sehr weit unter den Rekordwerten der letzten Jahre. Woher weiß man schon jetzt, dass es schlimmer als alles bisher Vergleichbare wird?

Ich gehe einkaufen, treffe eine Freundin, die mich demonstrativ umarmt, und mich auf das Interview mit dem Virologen Dr. Wodarg hinweist. Ich schaue es mir an, wie auch einige andere kritische Stimmen, die ich vor allem auf dem Rubikon finde. Die Argumente finde ich einleuchtend. Ja, es ist eine Grippewelle, so wie es jedes Jahr eine Grippewelle gibt, ja, man sollte sich mehr vorsehen, auch wie jedes Jahr, und ja, alte und schwer kranke Menschen leben in erhöhtem Risiko, weil ihr Immunsystem zu schwach ist und diese Grippe im schlimmsten Verlauf in einer Lungenentzündung enden kann. Also, Grund genug, die Ruhe zu bewahren und abzuwarten, ob die ergriffenen Maßnahmen etwas bewirken.

Am Abend gehen wir essen, die letzte Alternative um auszugehen. Das Restaurant ist halb voll, die Wirtsleute erzählen uns, die Hälfte der Reservierungen wurden abgesagt, mit gleichlautenden Begründungen: „Leider würde man es zeitlich doch nicht schaffen.“

Man traut sich nicht, die Angst vorm Virus offen zu formulieren. Noch nicht.

Sonntag, 15. März 2020

In Hamburg endet die Ferienzeit. Ich freue mich auf die erste Chorprobe danach. Wenigstens das habe ich noch! Denke ich! Doch nun wird amtlich bekannt gegeben, dass Schulen und Kindergärten schließen. Auch die Volkshochschule schließt sich dem an. Das Musikatelier diskutiert über die Aufrechterhaltung seines Angebotes, doch dann wird auch hier die Schließung erklärt. Bis Ende März. Ich frage mich, woher wissen die Verantwortlichen, dass das Virus zwei Wochen braucht, um sich zu beruhigen? Wenige Tage später wird die Verlängerung dieser Schließungen bis zum 19. April bekannt gegeben. Auch hier steht wieder die Frage im Raum: Woher weiß man, dass das jetzt der richtige Zeitraum ist?

Wirtschaftsminister Altmeier weiß noch mehr. Die Nachrichten im Radio geben bekannt, dass er die Dauer der Grippewelle bis in den Sommer hinein vorausgesagt hat. Wie kann er das? Wie ist der Wirtschaftsminister so schnell zum Virus-Experten geworden?

Derweil geistert ein neues Gespenst durch die Medien. Der besonnene Dr. Wodarg, der die drastischen Maßnahmen in Zweifel gezogen hat, ist nun offiziell ein gefährlicher Mann, der wirres Zeug verbreitet. Der Innenminister von Niedersachsen fordert die Strafverfolgung von Menschen und Medien, welche die gegenwärtigen Maßnahmen infrage stellen. Und natürlich kommen alle Fake News über Corona wieder einmal aus Russland. Die in Erwägung gezogene Strafverfolgung von Kritikern bereitet mir viel größere Sorgen als die Aussicht auf eine Grippe.

Zum ersten Mal kommt mir das Wort Diktatur in den Sinn.

Zusammen mit diesen Sorgen beginne ich, um meine Gesundheit zu fürchten. Aber nicht wegen eines Grippevirus. Als Autorin sitze ich jeden Tag viele Stunden allein vorm Computer, in meinem häuslichen Büro. Seit einigen Jahren leide ich unter hohem Blutdruck, wie übrigens einige Autoren, es scheint eine Art Berufskrankheit zu sein. Ich empfinde es als Folge dauerhafter Arbeit am Computer in der Selbstisolation.

Bisher habe ich meine Symptome mit viel Bewegung, Chor, Tango, Yoga und sozialen Kontakten und ein paar Medikamenten ganz gut im Griff gehabt. Nun schnellen meine Werte nach oben und alle Symptome sind wieder da. Schlaflosigkeit, hohe Werte, depressive Zustände. Während andere Angst vor Corona haben, habe ich Angst vor einem erhöhten Schlaganfall-Risiko und vor weiteren isolierenden Maßnahmen.

Montag, 16. März 2020

Ich entwerfe eine Online-Variante für meinen Volkshochschulkurs. Formulierungen, die ich im normalen Kurs locker durch den Raum werfe, kosten mich erstaunlich viel Zeit. Ich kann in derselben Zeit höchstens ein Drittel dessen vermitteln, was ich an einem normalen Kursabend gemeinsam mit den Teilnehmern in Frage-Antwort-Spielen und unterhaltsamen Szenarien vermitteln kann. Ich stelle eine Hausaufgabe zum Schreiben eines ersten Textes. Die wenigen Ergebnisse, die zurückkommen sind auffallend düster.

Von allen Seiten hagelt es nun virtuelle Lebensvarianten. Meine Yoga-Lehrerin bietet Yoga per Skype an. Ich lehne dankend ab, verspreche ihr aber, dass ich ihr das zahle, was ich sonst auch gezahlt habe, ohne dass die Kurse stattfinden. Ich zahle dafür, dass die Kurse noch stattfinden, wenn der Spuk vorbei ist. Aus diesem Grund zahle ich auch meine Chorgebühren weiter und überweise wöchentlich Geld an unser Tango-Studio, das nun ebenfalls Tango-Kurse per Video anbietet.

Als schließlich auch das Chorportal Ideen für virtuelles Chorsingen anbietet, platzt mir der Kragen. Ich frage die Leute, warum sie nicht auf die Idee kommen, das Kulturgut Chor zu schützen, dessen Wesen es doch ist, miteinander in einem Raum zu singen? Wieso geht niemand in Verteidigung? Ich habe vorübergehend das Gefühl, Bill Gates ergreift in einem Überraschungsfeldzug die totale Weltmacht, ohne jegliche Gegenwehr.

Am Abend beruhigt sich dieses Gefühl. K. und ich beschließen, nicht einen offiziellen Sender mehr zu sehen oder zu hören, zumindest keinesfalls Nachrichten. Der Fernseher bleibt aus. Wir dichten bekannte Lieder in Corona-Varianten um. Auch die beiden deutschen Nationalhymnen sind dabei. „Einigkeit und Cohohorohona!“ schmettern wir und später „Auferstanden aus Ruinen und Corona zugewandt!“ Wir lachen viele Tränen und planen eine Corona-Party.

Die nächsten Tage

Den Party-Plan verwerfen wir ganz schnell wieder. Wir hatten ein paar Verabredungen mit Freunden und Freundinnen gemacht. Bis auf eine liebe Nachbarin sagen alle ab. Plötzlich sind alle Risiko-Gruppe.

Die ganze Welt scheint eine einzige Risikogruppe zu sein. Zum ersten Mal kommt bei mir die Frage auf: Gehören Krankheiten nicht auch zum Leben dazu?

Wo kommen wir hin, wenn wir das plötzlich nicht mehr akzeptieren wollen? Ist das etwa so sinnvoll, wie ein ernstgemeinter Versuch, das Blühen der Krokusse zu verhindern? Ich nehme mir vor, solche Fragen den Experten zu überlassen.

Um meine Symptome in den Griff zu bekommen, lasse ich mir Beruhigungstabletten verschreiben. Ist für den Moment wirksamer als ein zusätzlicher Beta-Blocker.

Es hagelt Absagen. Schon jetzt weiß eine Schule in Frankfurt, dass sie ein geplantes Seminar Ende April nicht stattfinden lassen kann. Ich frage, ob das nicht Vertragsbruch sei, zumindest für den Fall, dass die Schule zu diesem Zeitpunkt wieder offen ist, erhalte Vertröstungen, Schweigen.

Der Schriftstellerverband setzt sich für Ausfallzahlungen ein. Wie alle Künstlerverbände. Das ist ja auch richtig so. Was jedoch auffällt: Auch hier keinerlei Zweifel, keinerlei Fragen nach der Berechtigung von Maßnahmen, die zahllose Freischaffende in Not bringen. Stattdessen atemberaubende Sprachgeschöpfe: „Abstand ist jetzt Nähe und Fürsorge“, denkt sich der Hamburger Schriftsellerverband aus.

Ausgerechnet ein Mann mit einer lebenslangen Angst-Störung belässt es bei unserem geplanten Arbeitstermin zum individuellen Autoren-Coaching. Während unseres Treffens klingelt alle paar Minuten sein Telefon. „Das sind die Mitglieder der Selbsthilfegruppe, die ich gegründet habe“, erklärt er mir. „Die sind jetzt alle in Panik.“

Mit bewundernswürdiger Gelassenheit entscheidet er, wen er gleich zurückrufen muss, wer warten kann. Die Betroffenen leiden fast alle unter erhöhtem Suizid-Risiko. Die Gruppe darf sich momentan nicht treffen. Was ist mit denen, die es nicht aushalten und aus dem Fenster springen? Tauchen sie in der Corona-Statistik auf?

Ein neuer Erlass: Restaurants dürfen nur noch von 10 bis 18 Uhr öffnen. Alle Geschäfte, die keine Lebensmittelgeschäfte sind, werden geschlossen. Kinderspielplätze werden gesperrt. Meine Stieftochter, ihr Mann und die beiden Kinder sind zu Hause. Jeden Tag die Kunst, die Kinder vorm Durchdrehen abzuhalten, bei einem Minimum an Spielzeit im Freien. Und das bei geschlossenen Spielplätzen. Spielen mit anderen Kindern ist verboten.

Die Eltern müssen ihren Kindern erklären, warum sie vorübergehend vor anderen Kindern Angst haben müssen.

Ein paar Tage geht das gut. Dann hält es die Große, fast fünf, nicht mehr aus. Sie will endlich wieder mit Kindern spielen. Nur noch die Eltern und der kleine Bruder, das genügt auf die Dauer nicht. Wir, die Großeltern, versprechen, am Wochenende zu kommen, die Enkel zu übernehmen. Am Samstag kommt die Absage. Plötzlich gehören die „Kinder“, wie wir Stief-/Tochter und Schwiegersohn nennen auch zur Risikogruppe. Wir sollen in unserem Interesse auf Kontakt verzichten. Ich beteure, dass ich mich nicht schützen will. Ich weiß aus Erfahrung, dass ein Tag mit den Enkeln das Beste gegen Herzkreislauf-Beschwerden ist. Keine Widerrede. Besuch wird verschoben.

Sonntag, 22. März 2020

Wir verbringen das Wochenende im Garten und mit Spaziergängen. Meine Symptome beruhigen sich. Die Natur blüht auf. Überall munkelt man von einer geplanten Ausgangssperre. Ich habe riesige Angst davor, dass Spazieren gehen verboten wird.

Sonntagabend ist es raus: Restaurants werden nun komplett geschlossen. Die Kontaktsperre wird verhängt, mehr als zwei Leute dürfen sich nicht treffen. Wer in einer größeren Gruppe erwischt wird, riskiert — was? Die Ungewissheit der Strafe sorgt für eine ziemlich düstere Stimmung.

Wir wohnen am Elbstrand, ein beliebter Treffpunkt der Hamburger Jugend. Gerade jetzt. Polizisten stehen am Zugang zum Strand und verjagen jeden Jugendlichen, der sich nähert.

Das Restaurant nebenan muss endgültig schließen. Seit wir hier wohnen, begleitet uns das Lachen des Wirtes. Er liebt Witze und nutzt jede Gelegenheit, lauthals zu lachen. Wir haben sein Lachen nur noch selten gehört. Zum ersten Mal sehe ich ihn düster und besorgt. Er musste bereits seine Filiale in einem Einkaufszentrum schließen. Ob er — wie versprochen — wirklich wirtschaftliche Hilfe von der Stadt bekommt, ist völlig ungewiss. Die Sparkasse wirbt bereits mit neuen Krediten für Unternehmen, die von der Krise betroffen sind.

Die Finanzblase wird weiter wachsen, so viel ist jetzt schon absehbar. Und wie immer werden es die Schwächsten nicht überleben.

Die Menschen sind alle auf Abstand, verbunden in der Angst. Die meisten haben Angst vor dem Virus, der Rest hat Angst vor einer Diktatur oder dem wirtschaftlichen Ruin — Kombinationen dieser Ängste sind häufig.

„Was können wir tun?“, frage ich K.. „Irgendwas müssen wir doch tun!“ Ich auf jeden Fall, wenn ich nicht geradewegs auf einen Infarkt, einen Schlaganfall oder eine schwere Depression zusteuern will. Wegschauen, Verdrängen? Das Gefühl der Ohnmacht nicht an mich heran lassen? Wie soll das gehen?

Soll ich meine widerständige Haltung aufgeben, endlich auch an die große Virus-Gefahr glauben, und mich damit in die große Solidargemeinschaft jener einfügen, für die Abstand die neue Nähe ist? Das lässt mein Verstand nicht zu, mein Herz auch nicht.

Und dennoch bleibt nur eines: Mich auf Positives konzentrieren.

Was ist gut? Was ist das Gute an dieser Zeit?

„Die Ruhe auf den Straßen, die wenigen Leute überall“, sagt K. Er genießt die Langsamkeit. Allerdings laufen in seinem Büro die Drähte heiß, denn nichts kann mal eben im Vorübergehen geklärt werden. Online-Kommunikation und Telefonieren produzieren sehr viel mehr Klärungsbedarf als kurze Abstimmungen auf dem Flur.

Nochmal: Was ist gut? Das notgedrungene Anhalten am Abend. Es wirft Fragen auf, die vielleicht schon lange gestellt werden mussten.

Was brauche ich wirklich? Was ist mir wirklich wichtig?

Meine Yoga-Lehrerin fällt mir ein, sie fordert uns oft zum „beobachtenden Spüren“ auf. Das finde ich jetzt gut: Meine Gefühle beobachten, zulassen und anschauen zugleich. Das kann ich auch ohne die Anwesenheit meiner tollen Lehrerin weiter üben.

Als Alternative zum öffentlichen Rundfunk hören wir schon lange Internetradio. Unser Lieblingssender Radio Swiss Jazz sendet nun alle 15 Minuten Ermahnungen an die Hörer, zu Hause zu bleiben, nicht rauszugehen. In drei Sprachen! K. sucht eine Alternative, findet einen russischen Sender, der abwechselnd Jazz und Tango bringt, ohne Angstmache alle 15 Minuten. Das ist gut!

Was noch?

Zur Arbeit zurückkehren. Das immerhin kann ich ja. Zurück zu den Fünf Freunden und was ich sonst auch gemacht hätte. Ein paar Stunden lang einfach so tun, als ob gar nichts wäre. Tut sehr gut.

Welche guten Dinge habe ich im Leben? Die Arbeit am Ost-West-Buch. Keine Frage. Der Kontakt mit über vierzig Autoren. War doch sowieso die ganze Zeit per Mail! Ändert sich doch gar nichts! Na, also.

Aber mein eigenes Buch ist doch gerade rausgekommen. Gerade jetzt, wollte ich meine erste Wohnzimmerlesung organisieren, und weitere Lesungen in Cafés, Bars, kann ich jetzt alles nicht. Nee, stimmt. Dafür heißt das Buch aber „Aus dem Takt“! Geht es passender? Wieder ein Grund zur Freude.

Das Spazieren gehen ist noch immer erlaubt! Sogar ausdrücklich! Freude über jeden Menschen, der mir entgegen kommt und mich anlächelt. Obwohl wir uns gar nicht kennen. In diesem Lächeln spüre ich die ganze Kraft der Verbundenheit, die uns Menschen ausmacht. Man kann uns diese Verbundenheit nehmen auf allen Ebenen, dann konzentriert sie sich umso stärker auf die wenigen Schlupflöcher, die bleiben. Nicht bei allen. Viele Menschen sehen sofort weg, wenn ich sie anschaue, als würde jetzt schon Blickkontakt anstecken. Sehr viele aber, und ich glaube, es sind mehr als sonst, lachen mir offen entgegen, strahlen mich regelrecht an.

Ihr Lachen ist wie ein Strauß bunter Luftballons über einer Mauer aus Stein.

Vielleicht wird das ja irgendwann das Geschenk dieser Zeit sein, dass wir nach dieser erzwungenen Isolation plötzlich wieder die Schönheit von Nähe spüren. Ein Empfinden, das uns ganz verloren gegangen ist, in hektischen Zeiten und überfüllten U-Bahnen.

Wie wird es sein, wenn wir zum ersten Mal wieder tanzen gehen, zum ersten Mal wieder in einem Restaurant sitzen, mit Freunden lachen, vielleicht macht sogar jemand Musik?

Vor vielen Jahren habe ich an einem Hungerstreik teilgenommen. Nach zwei Wochen, in denen wir nur Getränke zu uns genommen hatten, beendeten wir den Streik mit Äpfeln. Nie werde ich den ersten Biss in den Apfel vergessen. Ein Strom von Glücksgefühlen durchzog meinen Körper. Die ausgehungerten Zellen sogen sich voll.

Wir hungern gerade unser körperliches Bedürfnis nach Nähe und sozialem Kontakt aus. Wir versuchen, so zu tun, als wäre dieses Bedürfnis verzichtbar. Aber in Wirklichkeit hungern wir. Vielleicht haben wir Glück und das Fasten lohnt sich.

Es wäre schön, wenn wir nach dieser Zeit die vertrauensvolle Nähe zwischen Menschen als eines der höchsten Güter empfinden, die wir haben können.

Und mal angenommen, diese Wochen sind vor allem eine kollektive Ansteckung mit dem Panik-Virus. Dann wäre es doch schön, wenn wir, wie bei jeder Virus-Infektion jetzt Antikörper entwickeln, wenn uns diese Zeit mit Abwehrkräften gegen Panik und Angst versorgt. Das wäre doch wirklich gut.


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