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Das schrecklich schöne Leben

Das schrecklich schöne Leben

Die meisten Menschen sind nicht auf der Suche nach sich selbst, sondern eher auf der Flucht. Inmitten all der Rätsel finden wir die Lösung im Dasein selbst.

„Das Leben ist schrecklich. Ich habe begonnen, es schön zu finden“ (Bohumil Hrabal)

Als ich ein Kind war, träumte ich, wie Kinder davon träumen, unbesiegbar zu sein. Alles war Zukunft, meine Zukunft, eine andere gab es nicht. Ich würde leben. Für mich allein war die Welt erfunden, für mich allein machte sie sich schön und schrecklich zugleich. Welche Bedeutung hatte angesichts meiner unerschütterlichen Zuversicht schon die Vergangenheit? Was hatte sie mit mir zu tun? War ich denn nicht ganz neu und fein, schwere- und fast schattenlos? Auf jeden Fall machte ich mich bereit.

Jede Kindheit, wenn man sie nicht an der Wurzel beschädigt, ist Mythos und Märchen, Höllenfahrt und Höhenflug zugleich. Jedes Kind weiß, worauf sich die Menschen seit Menschengedenken ihre Reime machen, doch nichts fesselt es so sehr wie das Heute. Alles andere kann warten, muss warten, damit das Jetzt sich in seinem Ich entfalten kann. Nichts weiß das Kind von der Zeit und ihrer majestätischen Gleichgültigkeit gegenüber dem individuellen Geschick, und so lebt es, als ereignete sich alles zum ersten Mal, als gäbe es keine Muster, keine Verstrickungen in ein unergründliches Schicksal. Seine Träume sind nicht seine Träume, sondern die Träume aller Menschen.

So kompliziert ist das Leben eigentlich gar nicht, solange man nicht krampfhaft versucht, sich zu ihm in ein möglichst günstiges Verhältnis zu setzen, solange man nicht partout auf dem eigenen Leben besteht, dessen Freuden und Kränkungen nicht persönlich nimmt und abzusehen vermag von der Idee, man verfüge über besondere Rechte. Doch wer könnte schon von sich behaupten, dass ihm dies gelänge?

Zwischen Kopf und Füßen erstreckt sich ein Leib, der seine Bedürfnisse so unmissverständlich artikuliert, dass ich sie unmöglich ignorieren kann.

So erfahre ich Leben zuerst: als Bewohner atmender, pulsierender, blutender Materie, einer Ungestalt, die ich mir keineswegs ausgesucht habe und die mich durch die Welt trägt, ebenso wie ich sie durch die Welt trage. Gemeinsam formen wir ein sichtbares Ich. Man gibt uns einen Namen, auf den wir hören sollen. „Werde der du bist“, lautet der Imperativ von Delphi, kämpfen sollen wir um unser Überleben und gegen eine uralte Traurigkeit.

Den Anfang und das Ende des Tages markiert allemal der Leib mit all den Notwendigkeiten, derer es bedarf, seine Sterblichkeit hinauszuzögern. Die Niederlage ist unausweichlich. Doch wer möchte das schon wissen?

Mein Leben ist endlich, das Leben unendlich. In dieser für den Menschen emotional kaum nachvollziehbaren Konstellation von Wissen und Ohnmacht spielen sich seine Tage dahin als eine Abfolge von Prävention, Sublimation und zaghaftem Aufbegehren.

Um nicht wissen müssen, was er doch weiß, erfindet er Spiele, Götter und Ausreden. So wäre das Geschlecht der Unverbesserlichen vielleicht in ein Bild zu fassen: hoch zu Ross, dabei Schellenkappen auf den verlausten Häuptern balancierend, die zahnlosen Münder zu einem schwer auslegbaren Grinsen verzogen.

Die abendländische Geistesgeschichte hat auf all diese Widersprüche Antworten formuliert, die dazu einladen, in einen lebendigen Dialog mit ihnen zu treten. Wer einmal begonnen hat, seine eigenen Fragen ernst zu nehmen, der wird sich nicht so leicht begnügen, sondern immer weiter forschen in dem unendlichen Labyrinth der Auslegungen. In der vollkommen ausgeleuchteten Welt ist der Mensch dann realiter aber doch nur wieder so eine kleine Nachtschnecke am Weg. Unbestreitbar ist allein der gestirnte Himmel über ihm. Er kann mit Fug und Recht behauptet werden. Doch wohin nur hat sich das moralische Gesetz, das angeblich in ihm waltet, verflüchtigt?

„Little boy“ nannten die Amerikaner die erste Atombombe über Hiroshima und freuten sich über das Feuerwerk zu ihren Füßen wie Kinder. Heute identifizieren wir uns fast widerstandslos mit unseren Benutzernamen und Passwörter und Kenncodes. Diejenigen, die durch Wälder laufen und Bäume umarmen, heißen Esoteriker und sind irgendwie lächerlich. Und dann sind da noch jene, die im Nahkampf zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit die Waffen gestreckt haben und der Welt irgendwie abhandengekommen sind.

In der Berliner U-Bahn kann man diese Verlorenen beobachten. Zwischen Wittenbergplatz und Dahlem Dorf reisen im Sommer 2023 zwei Männer mit langen Haaren und fernen Blicken durch ihre eigene Welt. Einer ist halbnackt und so schmutzig, dass es mir unwillkürlich graut und ich inständig hoffe, er möge sich nicht ausgerechnet neben mich setzen; der andere trägt einen schneeweißen Papieroverall, dazu schneeweiße Schuhe, und er schiebt einen mit allerlei goldenen Sonderbarkeiten gefüllten Einkaufswagen vor sich her. Er ist so sauber, so strahlend, wie man Kindern einen Engel beschreiben würde. Kein Mensch ist aber auf einen einzigen Nenner, womöglich eine Zahl zu bringen, und vielleicht ist der Engel in Wahrheit gar kein Engel, und der äußerlich Schmutzigste und Verworfenste von allen ist inwendig rein wie fallender Schnee.

Inmitten eines ohrenbetäubenden Lärms, der von innen und von außen zugleich kommt, sind wir schwankende, unzuverlässige Wesen, die ihr Nichtwissen notdürftig unter Attitüden verhüllen. Wovor wir uns am meisten fürchten, das ist die Stille, die Leere, das Nichtwissen. Kein Mensch hält es in seiner allereigensten Enge länger als einen Wimpernschlag aus. Sind Hunger und Durst einmal gestillt, müssen Zeitvertreibe her. Ballspiele etwa, wie sie sich der englische Landadel im 19. Jahrhunderts aus Langeweile und Überdruss erfand. Alles ist recht — jedes noch so magere Jahrmarktsgetümmel —, um sich von der Last seiner selbst zu befreien.

Die Wahrheit ist, dass wir uns keineswegs auf dem Wege zu uns selbst befinden, sondern im Gegenteil alles unternehmen, um uns von der unerträglichen Last unseres Selbst zu befreien, und noch die in den 1970er-Jahren in den westlichen Industriegesellschaften in Mode gekommene Selbstverwirklichung ist in Wahrheit nicht anderes als ein Konsumartikel für Besserverdienende, ein Mittel gegen die Angst davor, niemand zu sein und nichts zu gelten.

„Heute ist Dein Widerspruch“ — diese Zeile schrieb ich vor vielen Jahren einmal in einem Kindergedicht für meine Tochter.

Wohin also mit denjenigen, die quer zu ihrer Zeit und zu allen Zeiten stehen und die den beneidenswerten anderen, denen zu leben so leicht gelingt, als schlügen sie Purzelbäume, aus einer existenziellen Ferne ungläubig zuschauen? Wer sich auf der sicheren Seite wähnt, weil seine Begierden sich innerhalb der Grenzen des gesellschaftlich Erlaubten halten, der hat leicht reden, der muss sich vor nichts und niemandem rechtfertigen. Fürchten muss sich nur derjenige, der allein gegen fünf andere steht, die ihn einfach nicht mitspielen lassen wollen. Da mag er so lange rätseln, wie er will, den Grund dafür wird er niemals herausfinden. Und nicht einmal seine fünf eingeborenen Feinde können es eigentlich in Worte fassen, weshalb er unter keinen Umständen jemals zu ihnen gehören wird. Wie im Märchen liegen die Dinge nun einmal genauso, wie sie eben liegen: Der eine springt am Ende lachend davon, während der andere mit Stöcken vor die Tore der Stadt gejagt wird. An dieses Muster wird er sich gewöhnen müssen. Und wird sich bald nichts sehnlicher wünschen, als immer wieder davongejagt zu werden. So wenig wissen wir im Grunde voneinander, dass wir noch heute, in diesem Augenblick, sofort, unverzüglich damit beginnen sollten, einander Fragen zu stellen.

„Wirf deine Angst / in die Luft / Bald / ist deine Zeit um / bald / wächst der Himmel / unter dem Gras / fallen deine Träume / ins Nirgends“, heißt es in einem Gedicht von Rose Ausländer. Sei, was du bist, gib, was du hast. Egal was, egal wie viel, egal wem. Sei großzügig mit deinen armen Dingen und verschenke sie, ohne darüber nachzudenken. Habe den Mut, lerne den Mut, ohne Rückhalt zu sein. So verstehe ich dieses Gedicht einer Frau, die wusste, was es bedeutet, um das eigene Leben zu schreiben. Mag sein, es gelingt uns nicht immer, oder wir sind sogar von vorneherein zum Scheitern verurteilt — den Versuch ist es allemal wert, denn was wäre eine einzige Stunde Wirklichkeit ohne das Wagnis, sich selbst und die Dinge umher in Gedanken von den Füßen auf den Kopf zu stellen?

Dieser Leichtsinn.

Vielleicht wird man in einen Stein verwandelt, vielleicht in einen goldenen Vogel. Ein bekanntes Bild steht mir vor Augen. Henri Matisses „Ikarus“. Er schnitt ihn mit gichtigen Fingern aus blauem Papier, den Menschen im freien Fall. Da fliegt er nun mit blutendem Herzen inmitten leuchtender Sterne zur Erde. Und denkt nicht im Traum daran, sich zu ergeben. Könnte er noch einmal beginnen, er würde sich sogleich an die Verfertigung eines neuen, haltbareren Federkleides begeben. Die Grenze zwischen Mensch und Vogel ist für ihn nur eine Erfindung. Er glaubt nicht an sie.

Den Pinsel nicht mehr halten zu können und trotzdem weiterzumalen. Das wäre, vielleicht, eine Antwort.


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