Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben Dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch —
Wir weben, wir weben!
Heinrich Heines Gedicht „Die schlesischen Weber“ erschien im Juni 1844, und damit nur kurze Zeit nach den historischen Ereignissen, auf die es Bezug nimmt. Der Erscheinungsort lässt aufhorchen: Es war das von Karl Marx herausgegebene Blatt „Vorwärts!“ Das Gedicht wurde in Form von Flugblättern in der Auflage von 50.000 verteilt und machte seinerzeit mächtig Wind. Wegen seines „aufrührerischen Tones“ wurde es vom königlich-preußischen Kammergericht verboten. Ein schönes Beispiel politisch relevanter — und wirksamer — Literatur.
Der „dreifache Fluch“, von dem die Rede ist, richtet sich gegen drei Adressaten: Der erste ist Gott, der die Gebete der Weber nicht erhört zu haben schien. Der zweite Fluch gilt „dem König der Reichen,/ Den unser Elend nicht konnte erweichen/ Der den letzten Groschen von uns erpresst/ Und uns wie Hunde erschießen lässt.“ Schließlich ein dritter Fluch „dem falschen Vaterlande“. Die Anklage ist drastisch. Die dem Elend ausgelieferten „Working Poor“ weben Deutschlands Leichentuch. Ein Land, das so mit seinen Kindern umgeht, könnte man schlussfolgern, ist innerlich abgestorben oder geht dem Tod seines Gemeinwesens entgegen.
Geschöpfe des Webstuhls
1892, ein halbes Jahrhundert später, entstand Gerhart Hauptmanns naturalistisches Drama „Die Weber“. Die Schilderung der Titelfiguren in den Regieanweisungen ist erbarmungswürdig:
„Hinwiederum haftet allen etwas Gedrücktes, dem Almosenempfänger Eigentümliches an, der, von Demütigung zu Demütigung schreitend, im Bewusstsein, nur geduldet zu sein, sich so klein als möglich zu machen gewohnt ist. (…) Die Männer, einander ähnelnd, halb zwerghaft, halb schulmeisterlich, sind in der Mehrzahl flachbrüstige, hüstelnde, ärmliche Menschen mit schmutzig blasser Gesichtsfarbe: Geschöpfe des Webstuhls, deren Knie infolge vielen Sitzens gekrümmt sind.“
Die Weber bitten, nein winseln am Tag der Auszahlung des kärglichen Lohnes um etwas mehr Geld. Sie hungern, ihre Familien auch. Weitere Einsparmöglichkeiten in ihren Haushalten gibt es nicht. Fabrikant Dreißiger — eine unverkennbare Anspielung auf den historischen Arbeitgeber Zwanziger — verfällt daraufhin in tiefes Mitleid. Allerdings nur mit sich selbst:
„Der Weber wird immer gestreichelt, aber der Fabrikant wird immer geprügelt: das is'n Mensch ohne Herz, 'n Stein, 'n gefährlicher Kerl, den jeder Presshund in die Waden beißen darf. Der lebt herrlich und in Freuden und gibt den armen Webern Hungerlöhne. Dass so'n Mann auch Sorgen hat und schlaflose Nächte, dass er sein großes Risiko läuft, wovon der Arbeiter sich nichts träumen lässt, (…) darüber schweigt des Sängers Höflichkeit.“
Gerhart Hauptmann macht hier keinen Hehl daraus, dass er parteiisch ist. Er entführt den Theaterzuschauer in eine Welt, in der die Elenden ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert scheinen, nicht einmal geistig aufgehellt durch sozialistische Theorie.
Und ihre Peiniger beschwichtigen und leugnen, dass es überhaupt ein Problem gibt.
„Es ist genug gestorben“
Zu den Zuschauern einer „Weber“-Aufführung gehört 1893 auch die Künstlerin Käthe Kollwitz, die daraufhin in einem Zeitraum von fünf Jahren sechs Druckgrafiken über den Weberaufstand schuf. „Der Eindruck war gewaltig (…). Diese Aufführung bedeutete einen Markstein in meiner Arbeit“, berichtete sie. Neben dem berühmten Blatt „Weberzug“, auf dem rund 20 düstere, ausgemergelte Gestalten mit Hacken und Äxten zum rechten Bildrand marschierten, gab es auch intimere Zeichnungen wie „Not“. Darauf beugt sich eine verzweifelte Mutter in einer ärmlichen, schummrig beleuchteten Stube zu ihrem leichenblassen, offenbar todkranken Kind hinunter. Es erscheint klar, dass das arme Geschöpf hätte leben können, wenn die soziale Lage der Eltern ihm bessere Nahrung und Unterbringung ermöglicht hätte.
Kollwitz war das Genie des sozialen Mitgefühls, eine „Schwarzmalerin“ mit Herz und politischem Scharfblick. Sie entschied sich bewusst, das Arbeiterleben zu dokumentieren, jene Gestalten zu zeichnen, denen sie im Wartezimmer der Arztpraxis ihres Mannes begegnete. Eine Künstlerin, die soziale Verwerfungen immer vom leidenden Einzelmenschen her deutete, nie aus einer theoretischen Adlerperspektive. „Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind“, heißt es in ihrem Tagebuch. 1918, kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs, schrieb sie im sozialdemokratischen „Vorwärts“ ihrer kriegstüchtig gewordenen Nation einen weiteren kraftvollen Satz ins Stammbuch: „Es ist genug gestorben! Keiner darf mehr fallen.“
"Mir leid's nimehr!"
Wenn wir uns die Geschichte des Weberaufstands von 1844 vergegenwärtigen, so finden wir vieles, was in heutigen Verhältnissen sein Echo findet. Schlesien war fest im Griff eines militaristischen preußischen Staates. Nach einer Phase starken Bevölkerungszuwachses überwog in den 40er-Jahren des 18. Jahrhunderts irgendwann das Angebot gewebter Ware die Nachfrage. In der Not begannen Eltern auch ihre Kinder zu körperlicher Arbeit zu zwingen. Ganze Familien schufteten teilweise bis zum Umfallen, und die Arbeitszeit stieg auf bis zu 14 Stunden. Kleine Familienbetriebe bekamen zunehmend Konkurrenz von großen Fabriken, die mehr Waren preisgünstig produzieren konnten.
Insofern kann man im berüchtigten Fall der schlesischen Weber zwar nicht von „Globalisierung“ sprechen, wohl aber von einer bedrohlich anwachsenden internationalen Konkurrenz für heimische Handwerker. Auch die Automatisierung, die Selbstmarginalisierung des Menschen durch immer perfektere Maschinen, spielte schon damals eine Rolle.
Bei den Leinenwebern setzte der Pauperismus ein, die Massenverarmung. Sie hungerten. Die Abnehmer reagierten auf die zunehmend härter werdende Konkurrenz mit Lohnkürzungen. Am 3. Juni 1844 marschierten 20 Weber auf die Villa der Fabrikantenfamilie Zwanziger zu. Zwanziger ließ die aufständischen Weber von seinen Angestellten mit Knüppeln vertreiben. Am 4. Juni traten 3000 Weber in den Streik und marschierten nun in größerer Zahl zur Villa ihres Arbeitgebers, um die Freilassung eines gefangen genommenen Webers und Lohnerhöhungen zu erreichen. Die aufgebrachte Menge verwüstete Haus und Fabrik Zwanzigers. Im weiteren Verlauf griff der Flächenbrand des Aufstands auf andere Orte und Produktionsstätten über.
Nun griff das preußische Militär ein und schoss in die Menschenmenge. 11 Tote und 24 Verletzte waren das Ergebnis. Fabrikanten erhöhten daraufhin die Löhne. König Friedrich Wilhelm IV. drückte den Webern zwar sein Mitgefühl aus, setzte aber auf die Verhaftung der „Drahtzieher“ und auf verschärfte Pressezensur, damit keine weiteren Schilderungen des Weber-Elends nach außen dringen konnten. Dennoch gilt der Vorfall seither als Präzedenzfall wirkungsvoller Sozialproteste mit breitem Echo in der Welt der Kultur. Menschen aus der Bevölkerung spendeten Kleider und Geld. Der Satz aus Gerhart Hauptmanns Stück „Mir leid's nimehr!“ („Wir dulden es nicht mehr!“) wurde zum Weckruf für die soziale Bewegung.
Arbeiter schuften für „Kriegsknechte“
Karl Marx sah in dem Aufstand ein frühes Beispiel für Klassenkampf und verfasst im „Vorwärts!“ einen Artikel zum Thema: „Die armen Weber“. Die deutsche Kulturgeschichte hatte seither auch einen „linken“ Zweig, der Literatur, sozialistische Theorie wie auch politische Aktion inspirierte. Rosa Luxemburg wandelte mit ihrer Schrift „Die Akkumulation des Kapitals“ (1912) auf Marx‘ Spuren und weitete ihre Analyse auch auf die ökonomischen Aspekte von Kriegen aus. Vom Profitstandpunkt aus sei der Krieg vorteilhaft, weil mit seiner Hilfe Werte unmittelbar vernichtet und dann wieder neue geschaffen werden könnten. Der Gewinn beim Krieg liege bei den Unternehmern, die Lasten würden jedoch auf die Arbeiterklasse abgewälzt. „Wenn die Arbeiterklasse nicht die Erhaltungskosten der Staatsbeamten und des ‚Kriegsknechts‘ zum größten Teil tragen würde, so müssten die Kapitalisten selbst diese Kosten ganz tragen.“ Damit ist zunächst nur die materielle Belastung von Werktätigen durch Kriegshandlungen gemeint, welche die meisten von ihnen nie gewollt haben — hinzu kommt der gewaltige Blutzoll, den überwiegend lohnabhängige „Normalbürger“ zu zahlen haben.
„Wenn hingegen die große Mehrheit des werktätigen Volkes zu der Überzeugung gelangt (…), dass Kriege eine barbarische, tief unsittliche, reaktionäre und volksfeindliche Erscheinung sind, dann sind Kriege unmöglich geworden“, schrieb Luxemburg.
Und auch der Freiheitaspekt wird durch die Klassenfrage berührt:
„Das Wesen der sozialistischen Gesellschaft besteht darin, dass die große arbeitende Masse aufhört, eine regierte Masse zu sein, vielmehr das ganze politische und wirtschaftliche Leben selbst lebt und in bewusster freier Selbstbestimmung lenkt.“
Es blieb nicht bei der Theorie, als Rosa Luxemburgs Weggefährte Karl Liebknecht im Dezember 2014 als einziger Abgeordneter des Reichstags gegen die Kriegskredite stimmte, welche die materielle Voraussetzung für die Teilnahme Deutschlands am ersten großen Massensterben des 20. Jahrhunderts schufen.
Hambacher Fest und Weberaufstand
Es gibt sie, eine emanzipatorische, an Freiheit, Menschenrechten und sozialem Mitgefühl orientierte deutsche Tradition. Bei meinen Recherchen zum „Hambacher Fest“ 1832 bemerkte ich, dass es sich bei der historischen „Großdemo“ um eine überwiegend bürgerliche Veranstaltung handelte. Alles drehte sich um Bürgerrechte wie die Presse- und Versammlungsfreiheit sowie um die deutsche Einheit, weniger um soziale Rechte. Die Bewegung klammerte die Not der sozial Schwachen weitgehend aus, obwohl Pauperisierung — Massenverarmung — schon damals grassierte. Für Hungernde ist jedoch meist irrelevant, ob sie in einem einheitlichen Staatsgebilde unzensierte Artikel veröffentlichen können. Im Pfälzer Wald nahe dem Ort des Hambacher Fests stürzten hohe Zölle, Preiserhöhungen auf Holz und Missernten viele Bewohner in große Not. Nicht wenige sahen sich zur Auswanderung nach Amerika gedrängt.
Die Obrigkeit wusste — wie auch im Fall der schlesischen Weber — nur mit Repression auf diese Not zu antworten und verfolgte „Holzfrevel“ — das Sammeln von Reisig im Wald zu Heizzwecken — mit hohen Strafen. Die Träger der Bewegung rund um das Hambacher Fest waren überwiegend Intellektuelle und Wohlhabendere — Lehrer, Ärzte, Anwälte —, die auch das Bild heutiger Gedenkveranstaltungen zum Jubiläum des Ereignisses prägen. Dagegen ist nichts einzuwenden.
Es ist aber nötig, den Weberaufstand 1844 als einen wichtigen Weckruf dem Fest von 1832 an die Seite zu stellen. Nur beide Ereignisse gemeinsam bilden die sozialen und gesellschaftlichen Konflikte des 19. Jahrhunderts einigermaßen vollständig ab — mit Folgen bis in die Jetztzeit.
Wie ein Vogel, der nicht mit einem einzigen Flügel abheben kann, ist das Gedenken an das Hambacher Fest nicht vollständig ohne die Pflege der Erinnerung an die Not der Weber. Die Zweiteilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg spiegelt in gewisser Weise auch beide geschichtlichen und geistesgeschichtlichen Strömungen wider. Wobei die BRD eher der Tradition des Hambacher Fests mit seinem Fokus auf bürgerliche Freiheiten folgte, während sich die DDR auf die Forderung nach sozialen Rechten in der Tradition des „Weber-Dramas“ und der Theorien von Karl Marx und Rosa Luxemburg berief. Heute sind beide Traditionen verblasst, und Deutschland wankt ergeben in Richtung einer Zukunft, in der weder Freiheit noch Gleichheit noch Brüderlichkeit einen guten Stand haben dürften.
Der Terror der Ökonomie
Der Niedergang des sozialen Gedankens im Westdeutschland der Nachkriegszeit erfolgte in mehreren Wellen, die hier nur anhand einiger wichtiger Wegmarken skizziert werden können. Dazu gehört der Siegeszug der Wirtschaftsideologie des Neoliberalismus, als deren internationaler Startschuss der Pinochet-Putsch 1973 in Chile gilt. Den „philosophischen“ Überbau dazu schuf der US-Wirtschaftstheoretiker Milton Friedman. Der Neoliberalismus wurde treffend analysiert durch die Sachbuchautorinnen Naomi Klein („Die Schockstrategie“, 2007) sowie die französische Schriftstellerin Viviane Forrester. Letztere stellte die Ideologie der Welt als Ware in den Mittelpunkt ihres Buchs „Der Terror der Ökonomie“ (1997) und schilderte anschaulich die alles durchdringende Rolle des Profits im Turbokapitalismus:
„In Wirklichkeit beschäftigen sich die Texte und Reden, die die Probleme der Arbeit und damit der Arbeitslosigkeit analysieren, allein mit dem Profit, er bildet ihre Grundlage, ihre Matrix, ohne dabei jemals genannt zu werden. (…) Er steht ganz oben und bildet so offensichtlich die Grundlage für alles, dass man ihn verschweigt. Alles ist von ihm abhängig, ist auf ihn ausgerichtet, wird in Abhängigkeit von ihm geplant, verhindert oder verursacht, er erscheint so unausweichlich, als wäre er mit dem Wesen des Lebens verschmolzen.“
Die Anstrengungen, alles in Gesellschaft und Kultur dem Profit zu unterwerfen, wurde also begleitet von dem Versuch, diese Tatsache propagandistisch zu verschleiern, um Gegenwehr zu minimieren. Pauperismus, wie er im 19. Jahrhundert in Deutschland zu beobachten war, schien im Wirtschaftswunderland Deutschland überwunden zu sein. Er kehrt jetzt jedoch mit Macht zurück.
Das Comeback der Armut
Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, sind:
• Hartz IV als Methode der Schlechterstellung der Armen und als Drohkulisse für „noch“ Arbeitende. Das System war eine Kreation der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder und stieß, da von der vermeintlich linken Seite des politischen Spektrums ausgelöst, kaum auf Widerstand.
• Eine starke Zunahme der Anzahl der Transferempfänger im Vergleich zu den Einzahlern im Zuge der seit 2015 verstärkt auftretenden Migrationswellen.
• Die unnötig aufgebauschte „Corona-Krise“, die eine Welle von Firmenpleiten und ein Sterben von Kleinbetrieben, etwa im Gastronomiebereich, zur Folge hatte. Die Zahl der Pleiten zog im Sommer 2025 nochmals an.
• Verschärfte Inflation, eine ruinöse Verteuerung der Energiekosten und der Preise auf Gegenstände des Lebensgrundbedarfs — vom Mainstream meist gedeutet als unvermeidliche Folge des Russland-Ukraine-Kriegs.
• Eine galoppierende Verschuldungsdynamik, die sich unter Bundeskanzler Friedrich Merz verschärfen und die Zukunft massiv belasten wird. Verbunden damit ist ein dramatischer Verlust des gesellschaftlich erwirtschafteten Wohlstandes zugunsten der Profiteure der Rüstungsproduktion.
Ein Ausmaß an Armut, wie es die Leinenweber 1844 kannten, ist zwar hierzulande noch selten, jedoch gibt es für den Trend in den letzten Jahren nur eine Richtung: abwärts. Das Gewerkschaftsforum beklagt in einem Artikel vom Juni 2025, „dass im vergangenen Jahr etwa 2,1 Millionen Rentnerinnen unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze lebten, bei den männlichen Rentenbeziehern waren es rund 1,3 Millionen. 2024 galten in Deutschland 19,6 Prozent der Menschen ab 65 Jahren als armutsgefährdet, damit stieg die Armutsgefährdungsquote bei älteren Menschen um 1,2 Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr und auf den höchsten Stand seit 2020.“
Niedriglöhner in der Schuldenfalle
In engem Zusammenhang steht Altersarmut mit dem Phänomen der Überschuldung, die bei Senioren besonders deprimierende Effekte hat, da sich älter und körperlich schwächer gewordene Menschen aus ihrer Armut kaum wieder „herausarbeiten können“. Der „Schuldneratlas 2022“ spricht von Millionen von überschuldeten Menschen in Deutschland, wobei natürlich leichtsinniges Verhalten in vielen Fällen zu dieser misslichen Lage beigetragen hat.
Aber auch die Kombination aus niedrigen Löhnen und steigenden Preisen trieb viele in die Schuldenfalle. Laut Statistik wurde 2022 in Deutschland „in 19 % aller Beschäftigungsverhältnisse Niedriglohn gezahlt. Das war fast jeder fünfte Job.“ Wir sprechen hier aber noch vom „Regelfall“ derer, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind oder es in ihrer aktiven Zeit waren. Noch schwerer haben es die Wohnungslosen. Hier spricht das Statistische Bundesamt für 2014 von 474.700 „untergebrachten“ wohnungslosen Personen. Nicht Untergebrachte, also Menschen, die auf der Straße leben, machen noch einmal über 40.000 aus.
Weiter berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung von mehr als 150.000 „versklavten Menschen“ in Deutschland. Sehr häufig handelt es sich dabei um Fälle sexueller Ausbeutung — auch von Minderjährigen — sowie um die Schicksale von Eingewanderten mit prekärem Aufenthaltsstatus.
Linke ohne Einfluss — oder nicht wirklich links
Die Entwicklung in den letzten Jahren wird durch eine Dominanz wirtschaftsliberaler und libertärer Gedanken in den Mainstream-, aber auch in den „Alternativmedien“ verstärkt.
Union und AfD sind die stärksten Parteien, SPD und Grüne stehen — entgegen ihrer vereinfachenden Einordnung als „das linke Lager“ — in unterstützender Funktion für Sozialabbau und Reichenalimentierung zur Verfügung oder widmen sich der beschwichtigenden und somit das System stabilisierenden Abmilderung extremer sozialer Härten.
Wie stark die vermeintliche „neue Arbeiterpartei“ AfD die Vermögenden begünstigt, versuchte im Februar 2025 die Berliner Morgenpost aufzuschlüsseln:
„Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin würden die Wahlversprechen der Partei dem reichsten einen Prozent der deutschen Bevölkerung, vor allem Millionären und Milliardären, eine Steuerersparnis von 34 Milliarden Euro jährlich bringen. Die reichsten zehn Prozent erhielten fast 68 Milliarden Euro. Die obere Hälfte der Privathaushalte möchte die AfD mit insgesamt 137 Milliarden Euro unterstützen. Auf die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung entfielen demgegenüber nur Steuererleichterungen von 44 Milliarden Euro.“
Das Bündnis Sahra Wagenknecht ist einstweilen deaktiviert, die Partei „Die Linke“ könnte ein — wenn auch nicht ausreichendes — Gegengewicht darstellen, begrenzt ihre eigenen Wirkungsmöglichkeiten aber unnötig durch unpopuläre Exzesse der „Wokeness“ und das unseriöse Auftreten einiger Akteurinnen und Akteure.
Libertäre klagen über „Ausbeutungsumkehrung“
Argumentativ können Libertäre, die in Union und AfD prominent vertreten sind, vor allem mit dem Hinweis auf eine Entwicklung punkten, die am besten mit einem Begriff von Peter Sloterdijk beschrieben ist: „Ausbeutungsumkehrung“. In seinem Buch „Die nehmende Hand und die gebende Seite“ schreibt der Philosoph:
„Lebten im ökonomischen Altertum die Reichen unmissverständlich und unmittelbar auf Kosten der Armen, so kann es in der ökonomischen Moderne dahin kommen, dass die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven leben …“
Er sieht voraus, „dass die nur allzu plausible liberale These von der Ausbeutung der Produktiven durch die Unproduktiven der längst viel weniger plausiblen linken These von der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital den Rang abläuft“. Man sieht, bei welchem „Lager“ Sloterdijks Sympathien liegen. Seine Behauptung, die These von der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital sei „weniger plausibel“, meint er nicht näher begründen zu müssen.
Es ist aber notwendig, sich mit den Sorgen um einen „ausufernden Sozialstaat“ auseinanderzusetzen, der von Einzahlern in den Steuertopf durchaus als eine Form der Beraubung mit gutmenschlichem Anstrich empfunden werden kann. Die Statistik scheint erst einmal keinen Alarm zu schlagen. Sie besagt, dass die Anzahl der Bezieher von Arbeitslosengeld II beziehungsweise Bürgergeld von 2005 (6,33 Millionen) bis 2025 (5,48 Millionen) sogar noch etwas gesunken sei. Politischen Zündstoff liefert das Thema, wenn man zwischen „deutschen“ und „ausländischen“ Transferempfängern unterscheidet. Von letzteren bezogen 2005 noch 1,19 Millionen Leistungen, 2025 sind es schon 2,59 Millionen, was mehr als einer Verdoppelung entspricht.
Verelendung als Megatrend
Weniger Sorgen machen sich Libertäre allerdings über die strukturelle Ausbeutung, die generell in der Zinsdynamik steckt, welche zu einem beständigen Geldfluss in Richtung der reichsten ein bis zehn Prozent der Bevölkerung führt. Profiteure sind etwa die Inhaber von Schuldpapieren, zum Beispiel Staatsanleihen. Der Ökonom Christian Kreiß schätzt für 2024, dass „in etwa 2.600 Milliarden US-Dollar“ zu den ohnehin schon Wohlhabenden geflossen sind. Diese Dynamik sollte verstärkt ins Auge gefasst und mit Verarmungstrends in immer breiteren Schichten der Bevölkerung in einen Zusammenhang gestellt werden. Dies zu tun, wäre eine genuine Aufgabe einer „Linken“, die diesen Namen verdient.
Stattdessen sickern libertäre Konzepte nun auch in das Umfeld „alternativer“ Medien ein oder dominieren hier sogar. Rechtsalternative Magazine haben Zulauf, während linksalternative oder solche mit nicht klar festlegbarer politischer Ausrichtung stagnieren. Dabei hilft der libertären Richtung das Versagen scheinlinker Kräfte auf den Feldern Corona und Wirtschaftspolitik sowie eine „liberale Flüchtlingspolitik“, wie auch immer man diese menschlich bewerten mag.
Die Kombination aus einem allgemeinen Fremdeln mit den Fremden im Land und der Sloterdijkschen These einer „Ausbeutungsumkehr“ trägt dazu bei, dass Systemverlierer „inländischer“ und „ausländischer“ Provenienz nun gegeneinander kämpfen, anstatt von den Systemgewinnern vehement finanzielle Gerechtigkeit einzufordern.
Pauperisierung, also Verelendung, ist das „Ziel“, in dem sich alle wichtigen Entwicklungslinien unserer Zeit wie Militarisierung, Deindustrialisierung und liberale Flüchtlingspolitik bündeln. Es ist denkbar, dass hinter all dem ein Plan steckt, der zum Zusammenbruch der sozialen Infrastruktur führen und Millionen Menschen in aussichtslose Armut abschieben wird, welche den Widerstand gegen Unrecht erfahrungsgemäß eher lähmt als stimuliert. Eine depressive Mehrheit von Machtlosen wird zunehmend der Willkür der Ausplünderungsökonomie ausgeliefert sein. Wer dabei eher Teil des Problems als Teil der Lösung sein wird, ist die AfD. Es kann dem Kapitalismus ja letztlich egal sein, wer unter ihm regiert.
Die drei Plagen
In Heinrich Heines Gedicht stoßen die Weber einen „dreifachen Fluch“ aus, gegen Gott, König und Vaterland. Da wir nicht beurteilen können, ob Gott soziale Not hätte beheben sollen oder können, bleiben wir hier besser auf der weltlichen Ebene. Der dreifache Fluch heutiger Systemverlierer könnte sich gegen folgende drei Plagen richten: Ausbeutung, Unfreiheit und Krieg. Diese menschenfeindliche Dreieinigkeit wäre auch Angriffspunkt einer authentischen Linken. Karl Marx hat deren Kernaufgabe in einer berühmten Forderung definiert, nämlich „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Der Satz steht in der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, erschienen 1844, im Jahr des Weberaufstands.
Die drei Plagen, also Ausbeutung, Unfreiheit und Krieg, sind eng miteinander verwoben. Ausbeutung schränkt die Freiheit der ihr Unterworfenen ein, nicht nur weil sich diese einer Arbeitsplatzdisziplin unterwerfen müssen, sondern auch weil Geldmangel ihren Bewegungsradius erheblich einschränkt. Bürgergeld-Empfänger können oft niemanden mehr besuchen, der nicht in ihrer Nähe wohnt. Geldmangel zwingt dazu, sich ausbeuterischen Verhältnissen zu unterwerfen. Eine Einschränkung der realen Möglichkeiten, zwischen verschiedenen menschenwürdigen Arbeitsplätzen zu wählen, macht es zudem wahrscheinlicher, dass jemand einen Job in der Waffenindustrie annimmt oder sich sogar beim Militär verdingt.
Der Krieg und seine „Mutter“
Letztlich könnten Menschen sich also aus Angst vor dem sozialen Tod der Gefahr einer realen Tötung bei Kampfhandlungen aussetzen.
Die Profitlogik des Kapitalismus „verlangt“ in bestimmten Abständen nach Kriegen, da Zerstörungs-Wiederaufbauzyklen für die Wirtschaft förderlicher sind als ein ruhiges, auf Werterhaltung konzentriertes Leben aller am Wirtschaftskreislauf Beteiligter. Der französische Sozialist Jean Jaurès, ermordet 1914 von einem „Nationalisten“, sagte deshalb hellsichtig: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“
Krieg ist die Eskalationsstufe des im ethikbefreiten Wirtschaften ohnehin beliebten Prinzips des geplanten Verschleißes. Wenn alle meine Geräte ein künstliches Verfallsdatum einprogrammiert bekommen haben, bin ich gezwungen, in rascher Folge Ersatz anzuschaffen, um mein Arbeits- und Freizeitleben wie gewohnt fortsetzen zu können. Schlägt eine Bombe in meinem Arbeitszimmer ein, so dass der Zimmerboden wie in Steven Spielbergs Film „Der Soldat James Ryan“ ins Freie hinausragt, so könnte die Bauwirtschaft noch mehr mit mir verdienen — zuzüglich Wiederanschaffung aller Möbel, Teppiche, Bücher und Bilder. Werde ich selbst zusätzlich noch bei dem Angriff verletzt, verdienen Anbieter des Gesundheitssektors, gegebenenfalls auch die Hersteller von Arm- oder Beinprothesen. Sterbe ich, erfreut dies immerhin noch die Begräbnisindustrie.
Krieg stellt für autoritäre Machthaber zugleich die beste Möglichkeit dar, die Freiheit nicht nur der Soldaten, sondern auch aller indirekt von Kriegen Betroffenen einzuschränken. Auch die Meinungsfreiheit wäre in Kriegszeiten faktisch ausgeknipst — verstehen es Kriegsherren doch erfahrungsgemäß prächtig, berechtigte Kritik als „Vaterlandsverrat“ (im 20. Jahrhundert) oder als „Delegitimierung unserer Demokratie“ (im 21. Jahrhundert) abzukanzeln.
Die alte, neue Agenda einer authentischen Linken
Ursache für die sich immer wiederholende Inszenierung von Ausbeutung, Freiheitsberaubung und Krieg ist zunächst der Profit. Dann auch ein struktureller Sadismus; ergänzt natürlich auch durch die spezielle Psychopathologie einiger — nicht aller — Akteure. Gemeint ist das Gefühl tiefer Befriedigung, das sich einstellt, wenn ein kranker Machthaber ein anderes Lebewesen vollständig beherrschen kann. Und wo wäre die Beherrschung totaler als in Zeiten, in denen man eine Minderheit der Staatsbürger in den Fleischwolf eines brutalen Krieges wirft und gleichzeitig das Stillhalten der Mehrheit hierzu erzwingt oder herbeiredet?
Eine Linke, die nicht nur mehr schlecht als recht ein paar Plätze im Bundestag besetzen, sondern tatsächlich etwas bewirken will, muss zu ihren Wurzeln zurückkehren: zum Kampf gegen Erniedrigung, Freiheitsberaubung und Ausbeutung, speziell auch gegen das Verheizt-Werden von Bürgern im Krieg.
Zurückzukehren wäre also zum „Hauptwiderspruch“, jenem zwischen den Profiteuren und den Opfern ungerechter Umverteilung von unten nach oben. Sicher gibt es Menschen, die verdientermaßen viel Geld besitzen, und auch solche, die mit gutem Grund keines haben. Der Kampf von Linken sollte sich aber gegen das Überhandnehmen leistungsloser Übergewinne richten, deren Kehrseite nicht selbst verschuldete Armut ist.
Den „Nebenwidersprüchen“ — also zum Beispiel dem Schutz von Menschen verschiedener Hautfarben, sexueller Präferenzen und geschlechtlicher „Identitäten“ — kann man sich durchaus auch widmen. Nur ist zu bedenken, dass es hierbei zu Kraft verschleißenden Kämpfen zwischen verschiedenen Gruppen von Systemverlierern kommen kann. Ein Effekt, der von den Gewinnern gewollt und einkalkuliert ist. Wer seine Erregungsenergie in Richtung „Ausländer“ oder auch „Rechte“ verschleudert, kann dann — ausgelaugt — seinen wirklichen Schädigern nicht mehr gefährlich werden. Einen „König der Reichen“ — um es mit Heinrich Heine zu formulieren — sollten wir weder wählen noch auf Dauer auf seinem Thron dulden.

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